Tiefe Kniebeugen sind ungesund für das Kniegelenk. Mythos oder Wahrheit?
Bereits im vergangenen Blog-Beitrag zur Trainingslehre haben wir uns der Kniebeuge gewidmet, konkret dem Mythos, der besagt, dass die Knie bei einer Kniebeuge nicht über die Zehen ragen dürfen. Dieser konnte als Verletzungsrisiko und als nicht sinnvoll entkräftet werden. Auch im nachfolgenden Beitrag geht es um die Kniebeuge – nämlich um die Tiefe. Schadet sie unseren Knien, ist sie ungesund?
Von: Marc Streitenbürger, ASVZ-Trainingsleiter sowie Leiter Athletik Training bei Turicum Athletics
Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen auf: Entgegen der gängigen Meinung, treten die höchsten Scherkräfte nicht in der tiefen Kniebeuge bei einem Kniewinkel von <60 Grad (Abbildung 1) auf, sondern bei der halben Kniebeuge (Abbildung 2) bei etwa 90 Grad (Nisell,1986; Escamilla et al., 1998). Genau dort also, wo der Umkehrpunkt einer Kniebeuge in vielen Fitnessklassen empfohlen wird.
Bei der Ausführung einer Kniebeuge erhöht sich die Auflagefläche der femoropatellaren Gelenksfläche (Fläche zwischen Oberschenkel und Kniescheibe) mit steigender Tiefe stetig (Besier et al., 2005; D'Agata et al., 1993; Huberti & Hayes, 1984; Salsich et al., 2003). Dies wird in der Literatur als sogenannter «Wrapping Effekt» bezeichnet. Das bedeutet, dass die Kraft pro Fläche – also der Druck auf die Strukturen – mit stetiger Tiefe nicht zunimmt. Die höchsten Druckbelastungen treten bei 80 bis 100 Grad Kniebeugung auf». Und auch wenn die Kräfte auf das femoropatellare Gelenk etwas steigen, so werden diese über eine grössere Fläche verteilt (Bandi, 1971; Nisell & Ekholm, 1984).
Tägliche Bewegung über gesamten Bewegungsumfang
Dass unsere Gelenke tägliche Bewegung über den ganzen Bewegungsumfang benötigen, damit sie ihre Funktion langfristig ausführen können, zeigt der Blog-Beitrag «Verletzungsfrei dank Bewegungsvorbereitung» vom März 2018 auf. Wird ein Bereich einer Gelenksbewegung nämlich nicht trainiert und vernachlässigt, verliert der Körper die Fähigkeit, diese Gelenksbewegung zukünftig sauber anzusteuern und auszuführen. Weiter atrophieren Bänder, Sehnen, Knorpel und Muskeln, die in diesem Gelenksabschnitt arbeiten. Ein schrittweiser Funktionsverlust ist die Folge. Diesen Umstand konnten Hartmann, Wirth und Klusemann (2013) in einem Review aufzeigen.
Die in der Fitness-Szene oft genannten negativen strukturellen Auswirkungen von tiefen Kniebeugen auf die Kniegelenke können damit nicht bestätigt werden. Viel mehr begünstigten halbe Kniebeugen (Abbildung 2) im Vergleich zu tiefen Kniebeugen (Abbildung 1) degenerative Veränderungen, wie beispielsweise Knorpelrückgang im Meniskus. Dies nicht nur in den Knien, sondern auch in der Wirbelsäule (Hartmann et al., 2013).
Die positiven strukturellen Anpassungen von tiefen Kniebeugen wurden von Gratzke et al. (2007) bei professionellen Gewichthebern, welche aufgrund ihrer Sportart täglich mit hohen Gewichten tiefe Kniebeugen ausführten, untersucht. Sie wiesen ein signifikant dickeres Knorpelgewebe im Knie auf, als Untrainierte. Ein Phänomen, das bereits der Blog-Beitrag «Warum Radfahren und Schwimmen nicht gut für die Gelenke ist» vom Februar 2019 aufzeigte. Langzeitstudien haben gezeigt, dass eine langfristige und erhöhte Beanspruchung zu anabolen (aufbauenden), biochemischen und strukturellen Anpassungen des Knorpelgewebes führt (Roos & Dahlberg, 2005; Van Ginckel et al. 2010). Unsere Gelenke müssen also so oft wie möglich gegen/mit der Schwerkraft genutzt werden, damit sie gesund und leistungsfähig sein können. Hier ist das Kniegelenk keine Ausnahme.
Weitere positive Auswirkungen auf unseren Bewegungsapparat, welche durch die Ausführung von tiefen Kniebeugen erreicht werden können, wurden in verschiedensten Studien nachgewiesen. Grzelak et al. (2012) sowie Kongsgaard et al. (2010) beispielsweise konnten eine Steigerung der Zugkraft der Sehnen- und Bänderstrukturen durch erhöhte Querschnittsfläche und erhöhtem Kollagengehalt nachweisen. Weiter passen sich die Kreuzbänder durch das Training von tiefen Kniebeugen an und können damit ihre Zugkraft sowie ihre Elastizität verbessern (Cabaud et al. 1980). Zusätzlich konnten Caterisano et al. (2002) beobachten, dass die Aktivität der Gesässmuskulatur in der tiefen Kniebeuge im Vergleich zu einer halben Kniebeuge signifikant ansteigt (+35%).
Take-Home-Messages
In einer tiefen Kniebeuge
- herrschen weniger Scherkräfte auf die Kniegelenke, als in einer halben Kniebeuge (Fitness-Kniebeuge).
- ist die Druckbelastung auf das Knie besser verteilt.
- werden verbesserte strukturelle und funktionelle Anpassungen aller Gewebestrukturen im und um das Knie ausgelöst.
- wird die Ansteuerung aller Knie umspannenden Muskeln und des Gesässes verbessert.
Das regelmässige Ausüben von sauber und korrekt ausgeführten tiefen Kniebeugen minimiert das Verletzungsrisiko im Knie; die Aussage «Eine tiefe Kniebeuge schadet deinen Knien, sie ist ungesund» ist damit falsch.
Diese Blog-Beiträge könnten dich auch interessieren
- Über Kniebeugen und den Mythos, dass die Knie dabei nicht über die Zehenspitzen ragen sollen
- HIIT-Training vs. Dauermethode: Welche Trainingsform bringt’s?
- HIIT-Training: Weshalb das Intensitätsempfinden dabei nicht entscheidend ist
- Warum Schmerzen und das Ausmass der Verletzung nur selten korrelieren
- Warum Dehnungsschmerz nichts mit verkürzten Muskeln zu tun hat
- Mit Ruhe und Erholung zur Leistungssteigerung
- Barfuss-Training - Die Schuhe an den Nagel hängen?
- Warum Radfahren und Schwimmen nicht gut für die Gelenke ist
- Phänomen Muskelkater
- Training auf instabilem Untergrund
- Verletzungsfrei Dank Bewegungsvorbereitung
Literatur zum Text
McKean, M. R., Dunn, P. K., & Burkett, B. J. (2010). Quantifying the movement and the influence of load in the back squat exercise. The Journal of Strength & Conditioning Research, 24(6), 1671-1679.
Fry, A. C., Smith, J. C., & Schilling, B. K. (2003). Effect of knee position on hip and knee torques during the barbell squat. The Journal of Strength & Conditioning Research, 17(4), 629-633.
List, R., Gülay, T., Stoop, M., & Lorenzetti, S. (2013). Kinematics of the trunk and the lower extremities during restricted and unrestricted squats. The Journal of Strength & Conditioning Research, 27(6), 1529-1538.
Potvin, J. R., Norman, R. W., & McGill, S. M. (1991). Reduction in anterior shear forces on the L4L5 disc by the lumbar musculature. Clinical Biomechanics, 6(2), 88-96.
Nisell, R., & Ekholm, J. (1984). Patellar forces during knee extension. Scandinavian journal of rehabilitation medicine, 17(2), 63-74.
Escamilla, R. F., Fleisig, G. S., Zheng, N., Barrentine, S. W., Wilk, K. E., & Andrews, J. R. (1998). Biomechanics of the knee during closed kinetic chain and open kinetic chain exercises. Medicine and science in sports and exercise, 30(4), 556-569.
Bandi, W. (1977). Die retropatellaren Kniegelenkschäden: Pathomechanik und pathologische Anatomie, Klinik und Therapie. Huber.
Huberti, H. H., & Hayes, W. C. (1984). Patellofemoral contact pressures. The influence of q-angle and tendofemoral contact. J Bone Joint Surg Am, 66(5), 715-724.
Gratzke, C., Hudelmaier, M., Hitzl, W., Glaser, C., & Eckstein, F. (2007). Knee cartilage morphologic characteristics and muscle status of professional weight lifters and sprinters a magnetic resonance imaging study. The American journal of sports medicine, 35(8), 1346-1353.
Roos, E. M., & Dahlberg, L. (2005). Positive effects of moderate exercise on glycosaminoglycan content in knee cartilage: A four‐month, randomized, controlled trial in patients at risk of osteoarthritis. Arthritis & Rheumatism, 52(11), 3507-3514.
Van Ginckel, A., Baelde, N., Almqvist, K. F., Roosen, P., McNair, P., & Witvrouw, E. (2010). Functional adaptation of knee cartilage in asymptomatic female novice runners compared to sedentary controls. A longitudinal analysis using delayed gadolinium enhanced magnetic resonance imaging of cartilage (dGEMRIC). Osteoarthritis and Cartilage, 18(12), 1564-1569.
Besier, T. F., Draper, C. E., Gold, G. E., Beaupré, G. S., & Delp, S. L. (2005). Patellofemoral joint contact area increases with knee flexion and weight‐bearing. Journal of Orthopaedic Research, 23(2), 345-350.
D'Agata, S. D., Pearsall IV, A. W., Reider, B., & Draganich, L. F. (1993). An in vitro analysis of patellofemoral contact areas and pressures following procurement of the central one-third patellar tendon. The American journal of sports medicine, 21(2), 212-219.
Grzelak, P., Polguj, M., Podgórski, M., Majos, A., Krochmalski, M., & Domżalski, M. (2012). Patellar ligament hypertrophy evaluated by magnetic resonance imaging in a group of professional weightlifters. Folia Morphol, 71(4), 240-244.
Kongsgaard, M., Aagaard, P., Kjaer, M., & Magnusson, S. P. (2005). Structural Achilles tendon properties in athletes subjected to different exercise modes and in Achilles tendon rupture patients. Journal of applied physiology, 99(5), 1965-1971.
Cabaud, H. E., Feagin, J. A., & Rodkey, W. G. (1980). Acute anterior cruciate ligament injury and augmented repair Experimental studies. The American journal of sports medicine, 8(6), 395-401.
Caterisano, A., MOSS, R. E., PELLINGER, T. K., WOODRUFF, K., LEWIS, V. C., BOOTH, W., & KHADRA, T. (2002). The effect of back squat depth on the EMG activity of 4 superficial hip and thigh muscles. The Journal of Strength & Conditioning Research, 16(3), 428-432.
Jordaan, G., & Schwellnus, M. P. (1994). The incidence of overuse injuries in military recruits during basic military training. Military medicine, 159(6), 421-426.
Taunton, J. E., Ryan, M. B., Clement, D. B., McKenzie, D. C., Lloyd-Smith, D. R., & Zumbo, B. D. (2002). A retrospective case-control analysis of 2002 running injuries. British journal of sports medicine, 36(2), 95-101.
Powers, C. M., Ward, S. R., Fredericson, M., Guillet, M., & Shellock, F. G. (2003). Patellofemoral kinematics during weight-bearing and non-weight-bearing knee extension in persons with lateral subluxation of the patella: a preliminary study. Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy, 33(11), 677-685.
Souza, R. B., Draper, C. E., Fredericson, M., & Powers, C. M. (2010). Femur rotation and patellofemoral joint kinematics: a weight-bearing magnetic resonance imaging analysis. journal of orthopaedic & sports physical therapy, 40(5), 277-285.
Salsich, G. B., Ward, S. R., Terk, M. R., & Powers, C. M. (2003). In vivo assessment of patellofemoral joint contact area in individuals who are pain free. Clinical orthopaedics and related research, 417, 277-284.
Hartmann, H., Wirth, K., & Klusemann, M. (2013). Analysis of the load on the knee joint and vertebral column with changes in squatting depth and weight load. Sports medicine, 43(10), 993-1008.