Sensomotorisches Training – Warum dieses genau das Gegenteil davon bewirkt, was propagiert wird

8. Oktober 2018

Ob nun jemand stärker, kräftiger, ausdauernder oder schneller werden möchte – im Grundsatz ist stets die Effizienzsteigerung der trainierten Bewegungsmuster Ziel des Trainings. Dabei soll der Transfer auf die alltäglichen oder sportartspezifischen Bewegungsmuster möglichst gross sein. Um das Training noch effizienter zu gestalten, hat die Fitness-Szene das «sensomotorische Training» kreiert. Sie beschreibt damit das Training auf instabilem Untergrund. Doch was bringt’s?

Um Hintergründe des sensomotorischen Trainings zu verstehen, ist zunächst das grobe Verständnis für die Funktionsweise unseres Zentralnervensystems (ZNS) notwendig. Dieses sorgt dafür, dass ein sensorischer Input im Hirn so verarbeitet wird, dass der Körper eine adäquate motorische Antwort auf den Input gibt, d.h. eine Bewegung wie beispielsweise das Anheben des Armes auslöst. Unmittelbar nach einem solchen sensorischen Input hat die Sicherheit für das ZNS Priorität. Es will die Gefahr einer Verletzung minimieren. Effizienz, also eine Bewegung effizient auszuführen, ist für das ZNS erst zweitrangig. Diese Prioritätensetzung hat Auswirkungen auf die Bewegungsmuster des Körpers, vor allem auf neue. Weil das Hirn das neue Bewegungsmuster noch nicht kennt, stuft es dieses erstmals grundsätzlich als potentiell gefährlich ein. Über neuronale Mechanismen, wie beispielsweise eine verstärkte Aktivität der Antagonisten (gegenüberliegender Muskel des verwendeten, siehe Bild 1 in Impressionen) kontrolliert das Zentralnervensystem das neue Bewegungsmuster und lässt es den Körper in erster Linie sicher ausführen. Dadurch sieht die Bewegung anfänglich nicht nur nicht fliessend aus, sie ist auch ineffizient. Das ZNS sorgt sozusagen für eine Ausführung der Bewegung mit «angezogener Handbremse». So wie ein mit angezogener Handbremse fahrendes Auto mehr Benzin verbraucht, verbrauchen wir bei ineffizient ausgeführten Bewegungen mehr Energie.

Hemmmechanismen baldmöglichst reduzieren
Sale (2003) konnte beweisen, dass je besser jemand ein Bewegungsmuster beherrschte, desto weniger stark die hemmenden Einflüsse des Zentralnervensystems ausgeprägt waren. Das lässt sich auch auf dem Feld, sprich in Sport Centern beobachten: Wenn geübte Trainierende ihre Übungen ausführen, sehen diese Bewegungen «aus einem Guss» kommend und effizient aus. Warum? Durch das mehrfache Wiederholen des Bewegungsmusters lernt das ZNS, dass die Bewegung keine Gefahr darstellt. Die Folge: Das Hirn erlaubt die Ausführung ohne angezogene Handbremse.

Die neuronalen Hemmmechanismen sorgen also nur kurzfristig für den Sicherheitsmodus. Auch hier gilt: Übung macht den Meister. Trotzdem machen diese Vorgänge die Bewegungsmuster kurzfristig eben auch ineffizient. Dies kostet einerseits Energie, andererseits ziehen sie oftmals Kompensationsmechanismen nach sich, welche langfristig zu Beeinträchtigungen und Verletzungen führen können. Ein Grund, weshalb physisches Training unbedingt zum Ziel haben muss, diese durch das Zentralnervensystem ausgelösten Hemmmechanismen baldmöglichst zu reduzieren und eliminieren.

Sensomotorisches Training: Weshalb ist es so anstrengend?
Die Popularität des funktionellen Trainings sorgt dafür, dass auch das sensomotorische Training – das Ausführen von klassischen Trainingsübungen auf instabilem Untergrund wie etwa einem Bosu Ball (siehe Bild 2 in Impressionen) – wieder an Beliebtheit gewinnt. Sensomotorisches Training regt das Zentralnervensystem zwar dazu an, den Körper bei der Bewegungsausführung stärker zu beanspruchen, als das klassische funktionelle Training, jedoch müssen durch diesen Effekt sinnvollere Trainingsherausforderungen vernachlässigt werden (z.B. Reduktion des Gewichts oder der Bewegungsgeschwindigkeit). Was verspricht man sich also von sensomotorischem Training? Als Argument für Training auf instabilem Untergrund werden oftmals die kleinen stabilisierenden Muskeln genannt, die damit besser stimuliert werden und für mehr Stabilität sorgen sollen. Diese Stimulierung ist auch die Erklärung auf die Frage, weshalb sich Bewegungen oder ganze Trainings auf instabilem Untergrund so „anstrengend“ anfühlen und das Gefühl vermitteln, dass die gelenksnahen, kleinen Muskeln viel stärker arbeiten müssen. Weshalb ist dies für die Muskeln überhaupt aufwändiger?

Es konnte nachgewiesen werden, dass Agonisten ihre Aktivität senken und Antagonisten die Aktivität erhöhen, sobald jemand auf einem instabilen Untergrund steht (Bruhn, et al., 2006). Das Kennzeichen eines guten, effektiven und effizienten Bewegungsmusters ist jedoch eine tiefe Ko-Aktivierung der Antagonisten, während die Agonisten eine hohe Aktivität aufweisen (Baratta et al., 1988). Genau diese Ko-Aktivierung unterstützt sensomotorisches Training nicht. Man schafft dem Körper mit instabilen Untergründen bewusst eine Umgebung, die anstrengend für ihn ist. Diese Umgebung wird aber nicht anstrengender, weil beispielsweise der Trail steiler oder das Gewicht schwerer wird. Sondern weil das Hirn eine Gefahrensituation kreiert, aufgrund derer das ZNS auf den Sicherheitsmodus umstellt und die Handbremse anzieht – also die Aktivität des Antagonisten steigert und gleichzeitig die Abnahme der Aktivität der Agonisten fördert. Herbei führt man damit genau das Gegenteil eines effizienten Bewegungsmusters. Die Frage darf daher niemals sein, wie man sein Training anstrengender gestaltet, sondern mit welchen Bedingungen die gewünschten Anpassungen bewirkt werden können, damit die Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst wird.

Grundsätzlich sollen Trainingsübungen also immer auf die Bedingungen unseres Alltags beziehungsweise unsere favorisierten Sportarten angepasst sein. Die Anforderungen auf einem instabilen Untergrund wiederspiegeln jedoch nicht im entferntesten die Bedingungen der Umgebung des Grossteils der Menschheit. Ausser man ist Zirkusartist/-in. Die Untergründe, auf denen sich die Allgemeinheit aber bewegt, sind grundsätzlich sehr stabil. Die Herausforderung auf unsere Stabilität sind daher vielmehr die multidirektional auf uns einwirkenden Kräfte. Diese kommen zum Tragen, wenn wir beispielsweise abrupt einen Richtungswechsel vornehmen. Unsere Umwelt fordert unseren Körper dazu auf, nahezu ständig auf veränderte Bedingungen und einwirkende Kräfte reagieren zu können. Gerade im Sport finden diese Bedingungen oft bei hohen Geschwindigkeiten und/oder bei hoher Krafteinwirkung statt.  

«Statische» Stabilität, wie es das sensomotorische Training propagiert, hat nämlich gar keinen Zusammenhang mit «dynamischer» Stabilität, die wiederum in vielen Sportarten massgeblich gefordert ist. Dies wiesen die Wissenschaftler John N. Drowatzky und Fay C. Zuccato (1967) nach. Weshalb ist das so? Weil die Bewegungsmuster, die unser Hirn an die Muskeln senden, immer direktionsspezifisch sind. Direktionsspezifisch bedeutet, dass das ZNS, je nach Richtung, in die es den Körper im Raum bewegt, ein anderes Rekrutierungs- und Sequenzierungsmuster wählt. Mit dem sensomotorischen Training können jedoch hauptsächlich statische Bewegungen oder Bewegungen mit tiefen Geschwindigkeiten und somit mit tiefen äusseren Kräften trainiert werden. Der Übertrag auf die körperliche Leistungsfähigkeit muss daher als sehr gering, wenn nicht sogar als kontraproduktiv, angesehen werden. Das zeigen auch meine Erfahrungen aus dem Leistungssport: Es gibt Sportlerinnen und Sportler, die wochenlang nur auf instabilen Untergründen trainieren und dann sehr überrascht sind, wenn sie bemerken, dass sie unglaubliche Mühe haben, die schnellen Bewegungen auf stabilen Untergründen zu kontrollieren, weil dies völlig andere Anforderungen an den Körper stellt.

Die Anstrengung, aufgrund derer das sensomotorische Training oftmals als «super Training» bezeichnet wird, ist also einzig und allein Resultat der Ineffizienz der Bewegungsmuster. In meiner Tätigkeit als Athletik Trainer habe ich noch selten mit Athleten/Athletinnen oder Patienten/Patientinnen gearbeitet, bei denen die gelenksnahen, kleinen Muskeln zu wenig stark waren. Eher sehe ich das Gegenteil davon: Sie arbeiten häufig viel zu stark mit, was zu einer schlechten Mobilität dieser Gelenke, vielen Kompensationsmustern und damit schlussendlich zu Verletzungen führt.

Sensomotorisches Training in der Reha
Oft wird das Training auf instabilem Untergrund nach Verletzungen im Reha-Prozess eingesetzt. Meiner Meinung nach wird auch dort in die entgegengesetzte Richtung gearbeitet. Verletzungen, vor allem Überlastungsverletzungen, liegen sehr oft schlechten und ineffizienten Bewegungsmustern zugrunde. Wenn nun die verletzte Person im Reha-Prozess direkt auf eine instabile Unterlage gestellt wird, nimmt das ZNS dies noch stärker als Bedrohung war, als es das bei einer unverletzten Person tun würde. Die Folge? Unter Stress geht der Körper wieder in das gleiche Bewegungsmuster zurück, das er bereits kennt und welches der Ursprung für die Verletzung war.

Es gibt so viele Möglichkeiten, die motorische Kontrolle und damit die Stabilität in alltäglichen und sportartspezifischen Bewegungsmustern zu trainieren. Das sensomotorische Training auf instabilem Untergrund ist aus den genannten Gründen eine wenig sinnvolle Wahl.

Marc Streitenbürger, Leiter Athletik Training bei Turicum Athletics sowie ASVZ-Trainingsleitender Funktionelles Outdoor Training

 

Literatur

  • Bruhn, S., Kullmann, N., & Gollhofer, A. (2006). Combinatory effects of highintensity-strength training and sensorimotor training on muscle strength.International journal of sports medicine, 27(05), 401-406
  • Baratta, R., Solomonow, M., Zhou, B. H., Letson, D., Chuinard, R., & D'ambrosia, R. (1988). Muscular coactivation The role of the antagonist musculature in maintaining knee stability. The American journal of sports medicine, 16(2), 113-122.
  • Drowatzky, J. N., & Zuccato, F. C. (1967).  Interrelationsships between selected measures of static and dynamic balance. Research Quarterly. America Association for Health. Physical Education and Recreation, 38 (3), 509-510.
  • Sale, D. G. (2003). Neural adaptation to strength training. Strength and power in sport, 281-314.

 

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