Über Kniebeugen und den Mythos, dass die Knie dabei nicht über die Zehenspitzen ragen sollen
Der Kniebeuge - der uns allen bekannten und äusserst beliebten Trainingsübung - wird oft angedichtet, Ursache von Knieproblemen zu sein. Der Grossteil der Sporttreibenden hat die Anweisung «Deine Knie sollen nicht über die Zehenspitzen ragen» oder die Aussage «Eine tiefe Kniebeuge schadet deinen Knien, sie ist ungesund» schon einmal gesagt bekommen. Doch, stimmt das oder handelt es sich dabei um unwahre Mythen? Unsicherheiten, die für uns Grund genug sind, uns im ASVZ-Blog genauer mit Kniebeugen und deren Auswirkungen auseinanderzusetzen. Im ersten Beitrag widmen wir uns der Anweisung bezüglich Zehenspitzen, Inhalt des zweiten Beitrags sind die tiefen Kniebeugen.
Von: Marc Streitenbürger, ASVZ-Trainingsleiter sowie Leiter Athletik Training bei Turicum Athletics
Auch wenn oft von DEM Kniegelenk gesprochen wird, so besteht das menschliche Knie eigentlich nicht aus einem, sondern aus drei Gelenken. Es sind dies das
- tibiofemorale Gelenk, welches durch das Schienbein und den Oberschenkel gebildet wird
- femoropatellare Gelenk, zwischen der Kniescheibe und dem Oberschenkel
- tibiofibularen Gelenk, zwischen dem Schien- und dem Wadenbein
In der nachfolgenden Auseinandersetzung mit der Kniebeuge sowie deren Zusammenhang zu den Zehenspitzen beschränken wir uns auf den Einbezug des tibiofemoralen und des femoropatellaren Gelenks (siehe dazu Abbildung 1).
Wovon der Knievorschub abhängt
Der Knievorschub und dessen Ausmass während dem Ausüben einer Kniebeuge wird von zwei Parametern bestimmt: Der Anthropometrie sowie die Positionierung der zu hebenden Last.
1. Anthropometrie
Die Masse unserer Körperteile sind von Person zu Person unterschiedlich. Sie bestimmen zu einem sehr grossen Teil, ob und wie stark die Knie während dem Ausüben einer Kniebeuge über die Zehenspitzen ragen. So werden die Knie einer Person, die im Vergleich zum Oberkörper über lange Beine verfügt, bei einer tiefen Kniebeuge ohne Gegenwehr mit grosser Wahrscheinlichkeit vor den Zehenspitzen zu liegen kommen. Im Gegensatz dazu werden die Knie einer Person mit, in Relation zum Oberkörper, kurzen Beinen in der natürlichen Endposition tendenziell eher nicht über die Zehenspitzen ragen. Diese beiden Kniepositionen veranschaulicht Abbildung 2.
Die Ursache dafür ist rein physikalischer Natur. Um nicht nach vorne oder nach hinten zu fallen, muss unser Körperschwerpunkt stets direkt über der Unterstützungsfläche liegen. Damit dies gewährleistet ist, müssen sich unsere Gliedmassen und unser Rumpf demzufolge auf individuelle Weise «falten». Dies hat oben beschriebene Bewegungsmuster zur Folge: Jemand mit langen Beinen muss seine Knie bei einer Kniebeuge nach vorne und damit vielfach vor die Zehenspitzen kommen lassen. Sonst fällt er/sie entweder nach vorne oder hinten oder verhindert das Umfallen anhand einer starken Vorwärtsneigung des Oberkörpers. Diese Person kompensiert mit Fehlstellungen in anderen Körperpartien. Ganz anders bei jemandem mit kurzen Beinen und einem relativ langen Oberkörper: Der Körperschwerpunkt befindet sich bereits bei einem sehr kleinen Knievorschub über der Mitte der Unterstützungsfläche. Die Knie werden während einer Kniebeuge demzufolge nie über die Zehenspitzen hinaus zu liegen kommen.
Die Auseinandersetzung mit den oben beschriebenen unterschiedlichen Verteilungen der Körpermasse zeigen auf: Die Kniebeugen von nur zwei Personen können je nach anthropometrischen Voraussetzungen sehr unterschiedlich aussehen. Dazwischen liegen viele weitere Nuancen. Die viel zu oft angewendete pauschalisierte Regel wie «die Knie dürfen nicht über die Zehenspitzen ragen» ist aus diesem Grund schon mal nicht sinnvoll bzw. birgt ein Verletzungsrisiko aufgrund von Kompensieren in anderen Körperpartien.
2. Positionierung der zu hebenden Last
Je nachdem, wo die Last auf dem Körper platziert wird, verändert dies den Körperschwerpunkt. Folglich muss der Körper die Ausrichtung der Gliedmassen und des Rumpfes ändern, damit die physikalischen Gesetze wie oben aufgezeigt eingehalten werden können.
Abbildung 3 zeigt im linken Bild eine Kniebeuge mit Last, welche vorne auf den Schultern platziert ist. Wie zu sehen ist, wird die Bewegung mit sehr aufrechter Körperhaltung ausgeführt. Diese sowie zusätzlich ein sehr offener Hüftwinkel braucht es, damit der Körperschwerpunkt über der Mitte der Unterstützungsfläche gehalten werden kann. Der offene Hüftwinkel muss jedoch durch einen sehr geschlossenen Kniewinkel kompensiert werden, was wiederum einen grösseren Knievorschub bedingt.
Im mittleren Bild von Abbildung 3 ist eine Kniebeuge mit Last, welche hinter dem Körper auf den Schultern platziert ist, zu sehen. Augenscheinlich ist, dass der Oberkörper bei dieser Positionierung der Last weniger aufrecht ist. Auch der Hüftwinkel ist weniger offen, womit der Kniewinkel weniger kompensieren muss und demzufolge weniger geschlossen ist. Dies führt zu einem weniger ausgeprägten Vorschub des Kniegelenks.
Dieser Trend setzt sich im rechten Bild von Abbildung 3 fort. Mit der Positionierung der Last noch weiter hinten auf dem Rücken, muss sich der Oberkörper stark nach vorne neigen, um den Körperschwerpunkt halten zu können. Dies führt zu einem stark geschlossenen Hüftwinkel. Folglich ist der Kniewinkel offener und die Knie müssen weniger stark nach vorne geschoben werden.
Kompensation in anderen Körperpartien
Wie eingangs erwähnt, ist die Position des Knies bei der Kniebeuge und damit ob und wie viel die Knie über die Zehenspitzen ragen stark von der Anthropometrie und der Positionierung der zu hebenden Last abhängig. Durch die Anweisung, die Knie nicht über die Zehenspitzen vorschieben zu lassen - obwohl dies aufgrund der oben genannten physikalischen Gesetzte ein natürliches Bewegungsmuster sein kann - muss diese unnatürlich gestoppte Bewegung in einer anderen Körperpartie kompensiert werden. In den meisten Fällen wird diese veränderte Kniemechanik bzw. -position durch die Veränderung der Oberkörpervorlage ausgeglichen. Dies ist in der Abbildung 4 gut ersichtlich.
Bild A von Abbildung 4 zeigt eine natürliche Kniebeuge mit Last auf den Schultern hinter dem Körper. Dabei ragen die Knie aufgrund der Anthropometrie der abgebildeten Person sowie der Positionierung der Last über die Zehenspitzen. In Bild B verhindert ein künstlich platzierter Gegenstand den natürlichen Knievorschub. Dies verändert den Körperschwerpunkt. Damit dieser weiterhin über der Mitte der Unterstützungsfläche zu liegen kommt, muss die abrupt gestoppte Bewegung der Knie in der Hüfte und besonders in der Lendenwirbelsäule kompensiert werden.
Fry et al. (2003) wiesen nach, dass bei einer Kniebeuge, bei der der Knievorschub künstlich verhindert wurde, zwar das Drehmoment im Knie um 22 % ab-, dafür das Drehmoment in der Hüfte um 1’000 % (!) zunahm. Die fehlende Knieflexion führt also zu einer deutlichen Erhöhung des Drehmoments im Hüft- und Iliosakralgelenk sowie in der Lendenwirbelsäule. Diese verstärkten Scherkräfte, vor allem in der Wirbelsäule, führen zu einer gesteigerten Zugbelastung auf die intervertebralen Bänder (Fry et al., 2003; List et al. 2013; Potvin et al. 1991). Weiter konnten McKean et al. (2010) sowie Fry et al. (2003) beobachten, dass die Restriktion des natürlichen Knievorschubs über die Zehenspitzen zwangsläufig zu einer verfälschten Knie-Hüftkoordination führt.
Die abgestimmte Koordination unserer Gelenke ist eine essentielle Grundlage für alle effizienten Bewegungsmuster. Unsere Knie sind anatomisch darauf ausgerichtet Kniebeugen auszuführen. Sowohl bei Personen, bei denen die Knie nicht über die Zehenspitzen ragen, als auch bei jenen, bei denen sie dies tun. Durch die künstliche Veränderung des Bewegungsmusters «Kniebeuge» werden langfristig Kompensationsmuster generiert, die zu Belastungsverletzungen führen können.
Take-Home-Messages
- Der Knievorschub bei Kniebeugen ist abhängig von den anthropometrischen Voraussetzungen des Individuums sowie der Positionierung der zu hebenden Last.
- Künstliche Restriktionen des Knievorschubs führen zu verfälschtem Bewegungsmuster, erhöhtem Drehmoment in der Hüfte und verstärkten Scherkräften in der Wirbelsäule.
- Damit birgt die Anweisung «Deine Knie sollen nicht über die Zehenspitzen ragen» ein Verletzungsrisiko und ist damit nicht sinnvoll.
Diese Blog-Beiträge könnten dich auch interessieren
- HIIT-Training vs. Dauermethode: Welche Trainingsform bringt’s?
- HIIT-Training: Weshalb das Intensitätsempfinden dabei nicht entscheidend ist
- Warum Schmerzen und das Ausmass der Verletzung nur selten korrelieren
- Warum Dehnungsschmerz nichts mit verkürzten Muskeln zu tun hat
- Mit Ruhe und Erholung zur Leistungssteigerung
- Barfuss-Training - Die Schuhe an den Nagel hängen?
- Warum Radfahren und Schwimmen nicht gut für die Gelenke ist
- Phänomen Muskelkater
- Training auf instabilem Untergrund
- Verletzungsfrei Dank Bewegungsvorbereitung
Literatur zum Text
Fry, A. C., Smith, J. C., & Schilling, B. K. (2003). Effect of knee position on hip and knee torques during the barbell squat. The Journal of Strength & Conditioning Research, 17(4), 629-633.
McKean, M. R., Dunn, P. K., & Burkett, B. J. (2010). Quantifying the movement and the influence of load in the back squat exercise. The Journal of Strength & Conditioning Research, 24(6), 1671-1679.
List, R., Gülay, T., Stoop, M., & Lorenzetti, S. (2013). Kinematics of the trunk and the lower extremities during restricted and unrestricted squats. The Journal of Strength & Conditioning Research, 27(6), 1529-1538.
Potvin, J. R., Norman, R. W., & McGill, S. M. (1991). Reduction in anterior shear forces on the L4L5 disc by the lumbar musculature. Clinical Biomechanics, 6(2), 88-96.