Barfuss-Training - die Schuhe an den Nagel hängen?

22. Juli 2019

Obwohl Barfuss-Training immer mehr Fans generiert, ist gleichzeitig Widerstand dagegen spürbar. Viele Sportanbieter und Fitness Center erlauben das Trainieren ohne Schuhe nicht, obwohl es sehr gesund ist. Dieser ASVZ-Blog-Beitrag zeigt auf, wie wichtig es für unseren Körper ist, sich barfuss zu bewegen. Höchstwahrscheinlich werden wir in Zukunft zurückblicken und es ungewöhnlich finden, dass Barfuss-Training vor ein paar Jahren noch verpönt und vielerorts verboten war.

In vielen Fitness Centern ist das Trainieren ohne Schuhe nicht erlaubt. Und wo es nicht verboten ist, wird man als Barfuss-Trainierender häufig irritiert gemustert. Überraschend, denn das Tragen von Schuhen gehört erst seit rund 600 Jahren zur Kultur grösserer Bevölkerungsgruppen. Wir gehen unseren Weg also erst einen winzigen Bruchteil unserer Historie «beschuht». Sich barfuss fortzubewegen, ist jedoch etwas vom natürlichsten und ursprünglichsten überhaupt. Es scheint daher paradox, wenn Anbieter von Sportangeboten damit werben, die Gesundheit ihrer Sporttreibenden verbessern zu wollen, gleichzeitig aber etwas verbieten, das für unseren Körper und unsere Gesundheit essentiell ist.

Nachteile des Schuhetragens (beispielsweise der Hallux Valgus, also der Schiefstand des Grosszehens) sowie Vorteile des Barfuss-Trainings (zum Beispiel eine stärkere Fussmuskulatur) sind vielen Sporttreibenden bereits bekannt. Die Betrachtung des Barfuss-Trainings auf dieser biomechanischen Ebene liefert sehr gute Erkenntnisse und Erklärungen für Fehlstellungen. Doch kann sie das Phänomen Barfuss-Training nicht ganzheitlich erklären. Die neurophysiologische Perspektive müssen wir gleichermassen betrachten.

Wie das Gehirn unsere Bewegungen steuert
Unser Nervensystem ist dazu da, unser Überleben (durch Bewegung) zu sichern. Dabei spielt das kurzfristige Überleben – das Hier und Jetzt – eine viel grössere Rolle, als das langfristige – die weite Zukunft. Damit unser Fortbestehen und unser Funktionieren in unserer Umwelt sichergestellt werden kann, muss unser Gehirn konstant voraussagen, was im nächsten Moment «passieren» wird. Nur so kann es die Gefahr bewerten und eine Bewegung steuern, welche diese eliminiert oder abschwächt. Für den Entscheid der Steuerung stehen dem Gehirn zwei Quellen zur Verfügung. Einerseits sind dies die Erfahrungen, die es in der Vergangenheit gemacht hat, andererseits die Informationen, die es über die sensorischen Systeme erhält. Je mehr Erfahrungen das Gehirn speichert und je mehr Sensorik-Informationen es erhält, desto besser kann es die Situation beurteilen. Um der Situation möglichst viel Gefahr zu nehmen und Sicherheit herzustellen, bedient sich das Gehirn verschiedener Formen adäquater Bewegungsmuster oder Reize. Die unangenehmste Form ist das Auslösen von Schmerz. Alternativ kann der Körper weniger Kraft und Beweglichkeit zulassen, denn mehr Kraft und ein grösserer Bewegungsumfang erhöhen kurzfristig das Verletzungsrisiko. Muss das Gehirn letztere Form langfristig anwenden, führt dies zu ineffizienten Bewegungsmustern, welche sich in kompensatorischen Bewegungen auswirken. Neben der Erhöhung der Verletzungswahrscheinlichkeit sinkt damit auch die Leistungsfähigkeit des Körpers.

Barfuss-Training aus neurophysiologischer Sicht
Weshalb sind die oben ausgeführten neurophysiologischen Grundlagen wichtig, um das Barfuss-Training ganzheitlich zu verstehen? Unsere Fusssohlen sind oft die einzigen direkten Kontaktflächen zu unserer Umwelt. Sie sind auch das Eingangstor, durch das fast alle Kräfte unserer Umwelt in unseren Körper gelangen. Wenn wir uns nun mit Schuhen in unserer Umwelt bewegen, haben wir keinen direkten Kontakt mehr zu ihr. Damit bekommt unsere Fussstruktur und unsere Haut mit den hunderten Rezeptoren viel weniger Informationen als barfuss. Diese Informationen sind für das Gehirn aber ungemein wichtig für die Einschätzung der (Gefahren-) Situationen. Weshalb? Weil unsere Muskeln dadurch exakt terminiert und sequenziert werden, damit die Kräfte erst sinnvoll abgefangen und anschliessend für unsere Bewegungen effizient genutzt werden.

Schuhe (und Socken) haben hierbei einen doppelt negativen Effekt: Einerseits sind die Signale über die Gegebenheiten des Untergrunds immer ein wenig verspätet, da sie zuerst durch die Schuhsohle bzw. durch die Socken gelangen müssen. Andererseits sind die erhaltenen Signale auch weniger stark und eindeutig, weil die vielen kleinen Rezeptoren und Nervenenden in unserer Fusssohle die Vibrationen und die Dehnung der Haut stark verzerrt und ungenau wahrnehmen. Äusserst negativ ist, wenn die Rezeptoren gar nicht erst stimuliert werden, weil der Reiz durch die Schuhe oder Socken dermassen abgeschwächt wird, dass die Schwelle der Reizauslösung gar nicht erst erreicht wird.

Die nachteiligen Folgen des ständigen Schuhetragens zeigen sich meist erst langfristig. Oft wird deshalb bisher kein Kausalzusammenhang zum Tragen von Schuhen hergestellt. Wir nehmen einfach an, dass das Älterwerden zu einer stetigen Verschlechterung der Balance, der Beweglichkeit und der Kraft führt. Mit dem Wissen über die neurophysiologischen Auswirkungen können wir jedoch davon ausgehen, dass das Tragen von Schuhen diesbezüglich einen erheblichen Einfluss hat. Und wie immer bei physiologischen Vorgängen gilt das «Use it or Lose it»-Prinzip. Die Rezeptoren in der Fusssohle werden konstant neu produziert und ersetzt. Wenn deren Reizung durch das Tragen von Schuhen und Socken aber ausbleibt, reduziert sich die Rezeptorendichte. Eine 80-jährige Person, die ein Leben lang Schuhe getragen hat und nie barfuss gelaufen ist, verfügt nur noch über rund einen Viertel der Rezeptorendichte, die sie mit 20 Jahren hatte. Die Folge ist, dass ihr Gehirn viel weniger Informationen über die Umwelt erhält und sie deswegen mit hohen negativen Konsequenzen in Bezug auf Balance, Beweglichkeit und Kraft leben muss.

Der Effekt von Barfuss-Training auf den Körper
Barfuss-Training setzt die Füsse also unmittelbar und direkt den Reizen der Umwelt aus. Damit kann die Rezeptorendichte in den Füssen erhalten werden, was auch die Gehirnareale, in denen die Informationen der Rezeptoren verarbeitet werden, fit hält. Tatsächlich wurde beobachtet, dass die Gehirnmasse im für die sensorische Verarbeitung zuständigen Kortex abnimmt, wenn die Fussrezeptoren nicht aktiviert werden. Dabei kommt das Phänomen der Bio- bzw. Neuroplastizität zum Tragen: Wir wissen heute, dass stetes Reizen bestimmter Körperareale diesen Verlust der Gehirnmasse rückgängig macht und sogar zu Wachstum dieses Gehirnareals führen kann.

Barfuss-Training kann also dazu beitragen, dass die Rezeptorendichte in den Fusssohlen nicht nur nicht weiter ab-, sondern sogar zunimmt. Dasselbe gilt für die zuständigen Gehirnareale, die für die Verarbeitung der Informationen zuständig sind. Das Funktionieren der sensorischen Zuflüsse aus den Füssen und deren anschliessende Verarbeitung im Gehirn ist entscheidend für die richtige Steuerung unserer Bewegungen. Dies gilt für jede Altersgruppe. Sich regelmässig barfuss zu bewegen heisst also auch, langfristig die Kraft und Beweglichkeit zu steigern und damit Schmerzen zu verhindern oder zumindest zu reduzieren. Es gibt kaum eine einfachere und für jeden Menschen anwendbare Massnahme, mit der man so viel Positives zu seiner körperlichen Entwicklung, der Gesundheit und Leistungsfähigkeit sowie zur Eigenständigkeit im Alter beitragen kann.

Einstieg ins Barfuss-Training
Der grösste Teil des Barfuss-Trainings ist nicht jener Teil, den man herkömmlich unter dem Begriff «Training» versteht. Es ist das tägliche Bewegen und Gehen ohne Schuhe und Socken. Warum nicht ab sofort ohne Finken zu Hause rumlaufen? Wer trotzdem noch ein bisschen mehr machen möchte: Barfuss zu trainieren benötigt Angewöhnungszeit, eine progressive individuell gesteuerte Belastungssteigerung und waches und behutsames Vorgehen. Den Körper in dieser wichtigen Übergangsphase zu überfordern, kann schnell zu Verletzungen und Einschränkungen führen. Ein guter Start ins Barfuss-Training ist das Bewegen der nackten Füsse. Im nächsten Schritt folgt das Barfuss-Spazierengehen in einer kontrollierten Umgebung, zum Beispiel auf einem Rasenfeld. Der Schwierigkeitsgrad kann gesteigert werden, in dem der Untergrund, beispielsweise durch Kieselsteine, unebener wird. So wird die Belastung wohl dosiert immer grösser, ohne dass die Situationen eine Gefahr für den Körper darstellen. Bestenfalls wird es ein normaler Bestandteil des Alltags.

 

Marc Streitenbürger, Leiter Athletik Training bei Turicum Athletics sowie ASVZ-Trainingsleiter Funktionelles Outdoor Training

 

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