Warum Dehnungsschmerz nichts mit verkürzten Muskeln zu tun hat
Von: Marc Streitenbürger, ASVZ-Trainingsleiter sowie Leiter Athletik Training bei Turicum Athletics;
Koproduktion: Silvana Ulber, Leiterin Kommunikation ASVZ
Schmerz im Sport ist ein komplexes Phänomen. Viele kennen es, die meisten ignorieren es, die wenigsten hinterfragen es. Mit Stretching vor dem Training liessen sich Verletzungen und damit Schmerz vorbeugen oder mit Stretching nach dem Training die Beweglichkeit steigern, sagt der Volksmund. Aussagen, die auf einem falschen Verständnis davon basieren, was im Körper beim Stretchen vor sich geht und wodurch unsere Beweglichkeit bestimmt bzw. eingeschränkt wird. Die nachfolgenden Zeilen setzen sich mit Stretching auseinander und führen anhand der Auseinandersetzungen mit dem Dehnungsschmerz in die mehrteilige Blog-Serie zu Schmerz im Sport ein.
Die Studienlage betreffend Stretching als Verletzungsprävention ist durch unzählige widersprüchliche Untersuchungsergebnisse gekennzeichnet. Für jede Studie, die besagt, dass Stretching einen (positiven oder negativen) Effekt darauf hat, gibt es mindestens genau gleich viele, die keinen Effekt beobachten konnten. Warum aber kann die Wissenschaft keine pauschale Aussage über die Wirksamkeit von Stretching machen? Einerseits liegt dies daran, dass es nicht DAS Stretching-Programm gibt, sondern unzählige davon. Andererseits spielen auch die physiologischen Hintergründe eines jeden Individuums eine grosse Rolle. Wir müssen uns bewusstmachen, was mit dem Muskel passiert, wenn er gedehnt wird. Nur so können wir verstehen, weshalb der Dehnungsschmerz den Bewegungsumfang bei den einen früher stoppt als bei den anderen.
Ein Muskel besitzt strukturell grundsätzlich immer die gleiche Länge. Dies bedeutet, dass sich die Muskellänge bei einem normalen (auch häufigem) Stretching nicht verändert. Auch wenn der Körper dadurch beweglicher erscheint. Entscheidend für die Gelenkspositionen, in die wir unseren Körper bringen können, ist in erster Linie nicht das Stretching, sondern das Nervensystem. Wie dieses genau funktioniert, kann im Blog-Beitrag «Sensomotorisches Training – Warum dieses genau das Gegenteil davon bewirkt, was propagiert wird» detailliert nachgelesen werden. Zusammengefasst gesagt sichert das Nervensystem unser Überleben. Dies, in dem es aufgrund sensorischer Inputs laufend abwägt, welche Gefahren von der vorliegenden Situation ausgehen. Aufgrund bisher gemachter Erfahrungen mit gleichen und ähnlicher Situationen gibt es dem Körper Befehle, wie er auf die Situation zu reagieren hat. Damit will unser Nervensystem uns von Aktionen abhalten, die unser Überleben gefährden bzw. bei denen wir uns verletzen könnten.
Entscheidend ist die Gelenksposition
Das Nervensystem schätzt eine Gelenksendposition immer als die potenziell grössere Gefahr ein, als eine mittlere Gelenksposition. Dies hat zwei Gründe: Zwar kann das je nach Sportart und Aktivitätslevel stark variieren, doch verbringen wir in unserem alltäglichen Leben die meiste Zeit in mittleren Gelenkspositionen. Eher selten ist unser Körper Gelenksendpositionen ausgesetzt. Für das Gehirn bzw. das Nervensystem stellt jedoch jede (mehr oder weniger) unbekannte Gelenksposition eine potenzielle Gefahr dar. Aufgrund mangelnder Erfahrungen kann es nämlich schlechter einschätzen, wie auf die vorliegende Situation zu reagieren ist und schaltet auf «Vorsicht». Hinzu kommt, dass daneben auch die motorische Kontrolle der Bewegungen nicht optimal ist, da diese bisher nicht oder nur wenig trainiert wurde.
Der zweite Grund besteht darin, dass der Muskel aufgrund unvorteilhafterer Überlappung der Muskelfasern in den Gelenkendpositionen viel weniger Kraft produzieren kann. Dieser Umstand erhöht die Verletzungsgefahr. Weniger Kraft, grössere Verletzungsgefahr? Die auf den Körper einwirkenden Kräfte bestehen in der Gelenksendposition trotzdem, sie können vom Muskel jedoch weniger gut abgefangen werden. Deshalb ist der Dehnungsschmerz nicht ein Zeichen eines verkürzten Muskels, sondern ein Schutzmechanismus des Nervensystems. Es will Gelenksendpositionen vermeiden, weil dort die grösste Verletzungsgefahr herrscht und in dieser Position auch tatsächlich die meisten Verletzungen entstehen. Folglich lässt es nur so viel Dehnungsspannung im Muskel zu, wie es bereits kennt. Wenn man über diese als sicher eingestufte Bewegungsamplitude hinausgeht, werden Botenstoffe wie Histamin und Serotonin ausgeschüttet welche eine Schmerzsensation auslösen.
Von passivem und aktivem Stretching
Passives Stretching («ziehen» am Muskel, ohne dass der gegenspielende Muskel aktiv arbeiten muss) kann die Reizschwelle dieses Schutzmechanismus verschieben, macht auf den ersten und kurzfristigen Blick beweglicher, ist aus Sicht der Verletzungsprävention aber nicht erstrebenswert. Die langfristige Verletzungswahrscheinlichkeit nimmt nämlich zu, weil der Körper beim passiven Stretching nicht lernt, diese neu gewonnene Bewegungsamplitude zu kontrollieren. Beim aktiven Stretching, bei dem mit natürlichen vielfältigen Bewegungsmustern die Bewegungsumfänge inklusive motorischer Bewegungskotrolle trainiert werden, tut er dies aber. Die Gefahr, sich zu verletzen ist dort viel kleiner. Denn durch diese funktionellen Bewegungsmuster erfährt der Körper in diesen neuen Bewegungszonen Stabilität. Er reduziert den Schutzmechanismus und reagiert mit weniger Widerstand.
Ob Stretching einen Effekt auf die Verletzungsprävention hat und beweglicher macht, kann nicht pauschal beantwortet werden. Die Antwort hängt stark vom gewählten Stretching-Programm und den Voraussetzungen des Trainierenden ab. Die zielführendere Frage ist, in welcher Art und Weise und in welchen Bewegungsumfängen der Körper sich mit aktiver Bewegung maximal vor Verletzungen schützen und gleichzeitig auch leistungsfähig sein kann. Funktionelle Bewegungsmuster mit grossen Bewegungsumfängen bewirken meiner Erfahrung nach die beste Verletzungsprävention. Wie du dies in dein Trainingsprogramm einbindest, zeigt dir das Video «Funktionelles Warm-Up» oder der ASVZ-Blog-Beitrag «Verletzungsfrei dank Bewegungsvorbereitung».
Take Home Message
- Stretching verlängert die Muskeln nicht
- Dehnungsschmerz ist ein Schutzmechanismus des Nervensystems, der uns von potenziell gefährlichem Verhalten abhalten soll
- Schmerzen bedeutet nicht, dass etwas kaputt sein muss
- Grosse Unterschiede von aktiver und passiver Beweglichkeit in einem Gelenk führen zu einer höheren Verletzungswahrscheinlichkeit
- Beweglichkeit muss immer zusammen mit motorischer Kontrolle in funktionellen Bewegungsmustern trainiert werden
Schlusswort und Ausblick
Die vergangenen Zeilen haben aufgezeigt: Schmerz bedeutet nicht immer eine Verletzung. Schmerz ist auch eines der wichtigsten und wirksamsten Tools unseres Nervensystems bzw. Gehirns, uns von einer potenziell gefährlichen Aktion oder einem möglichen riskanten Verhalten abzuhalten. Dass wir im Gegensatz dazu auch gröbere Gewebsschädigungen aufweisen können und trotzdem keine Schmerzen verspüren, darum geht es im nächsten Blog-Beitrag «Warum Schmerzen und das Ausmass der Verletzung nur selten korrelieren».
Literatur zum Text
Katalinic, O. M., Harvey, L. A., Herbert, R. D., Moseley, A. M., Lannin, N. A., & Schurr, K. (2010). Stretch for the treatment and prevention of contractures. Cochrane Database of Systematic Reviews, (9).
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