Vom gestählten Bizeps und der straffen Bikini-Figur sowie dem eingelenkigen und mehrgelenkigen Trainingsansatz
Von: Marc Streitenbürger, ASVZ-Trainingsleiter sowie Leiter Athletik Training bei Turicum Athletics;
Koproduktion: Silvana Ulber, Leiterin Kommunikation ASVZ
In Fitnessräumen sind in Bezug auf den Muskelaufbau oftmals zwei gegensätzlich interpretierte Trainingsansätze zu beobachten: Auf der einen Seite das eher maschinenbasierte, eingelenkige Muskelaufbautraining; auf der anderen das funktionelle, mehrgelenkige Training mit freien Gewichten. Sind die beiden Ansätze aber tatsächlich so gegensätzlich, wie oft dargestellt? Welcher ist effizienter? Welcher lässt den Bizeps im Tank-Top spektakulär gestählt und die Bikini-Figur perfekt gestrafft aussehen? Fragen wie diesen gehen wir in diesem Blog-Beitrag nach.
Damit es zu Muskelaufbau (Hypertrophie) kommt, muss mechanische Spannung auf einen Muskel einwirken. Konkret jene Spannung, die der Muskel selbst erzeugt. Fehlt diese Spannung, werden keine Muskeln aufgebaut. Diese Tatsache wird im Allgemeinen kaum mehr in Frage gestellt. Wie die Spannung zustande kommt, spielt keine Rolle. Auch wie stark der Muskel dabei «brennt» ist nicht entscheidend für einen erfolgreichen Muskelaufbau. Stand der Literatur ist, dass das maschinenbasierte Krafttraining und das funktionelle Training mit freien Gewichten in gleichem Masse zu erfolgreichem Muskelaufbau führen können; eine kürzlich publizierte Metaanalyse konnte dies wiederholt bestätigen (Heidel et al., 2021). Wo aber liegen nun die Vor- und Nachteile des eingelenkigen (maschinenbasierten) sowie des mehrgelenkigen (funktionellen) Trainingsansatzes?
Die eingelenkigen Trainingsübungen wie Trizeps- und Bizeps-Curls, Kniestrecker usw. bieten beste Voraussetzungen für den gezielten Muskelaufbau: Sie erzeugen die vorausgesetzte mechanische Spannung auf einen Muskel und die beteiligten Muskelfasern. Alles gut, so weit. Der Trainingsansatz hat jedoch einen für manche entscheidenden Nachteil: Mit jeder eingelenkigen Trainingsübung kann nur ein kleiner Anteil der gesamten Körpermuskulatur angesprochen werden. Um also den gesamten Bewegungsapparat mit eingelenkigen Trainingsübungen zu trainieren, muss Zeit in eine Vielzahl an Trainingsübungen investiert werden. Zwar steht für viele Kraftsporttreibende nichts über einem gestählten Bizeps, aber auch ein schöner Rücken kann entzücken, oder? Lässt sich beides gleichzeitig aufbauen – doppelt und dreifach gewonnen in einer Welt, in der Zeit ein beschränktes Gut und Effizienz das Mass aller Dinge ist. Der mehrgelenkige, funktionelle Trainingsansatz bedient diesen Umstand. Während nämlich bei Bizeps-Curls beispielsweise fast nur die Armbeuger (v.a. M. brachialis und M. biceps brachii) aktiviert werden, können Klimmzüge zusätzlich einen grossen Teil des Rückens, die hintere Schultermuskulatur sowie verschiedene Rumpfmuskeln stimulieren und damit mit dem gleichen Zeitaufwand ein Muskelwachstum von verschiedenen Muskelgruppen auslösen. Ähnlich verhält es sich bei den Beinen. Während die Maschine für Kniestrecker effektiv nur die Kniestrecker (M. quadrizeps femoris) trainiert, bedient eine Kniebeuge gleichzeitig auch die Gesässmuskulatur sowie verschiedene Adduktoren (v.a. M. adductor magnus) und Abduktoren.
Fans vom maschinenbasierten Krafttraining argumentieren oftmals, dass diese eingelenkigen Trainingsübungen die Muskeln ganz spezifisch und effektiver trainieren, weil sie gezielt maximal viel mechanische Spannung auf den Muskel bringen. In ihren Studien zeigen de Franca et al. (2015) und Gentil et al. (2013) jedoch auf, dass dies gar nicht notwendig ist. Bei einem mechanischen Reiz gilt das Prinzip «je mehr, desto besser» nämlich nicht. Vielmehr kommt es ab einer gewissen Reizschwelle zu keinem zusätzlichen Muskelwachstum mehr bzw. wird dieser sogar reduziert. Der Körper vermag sich dann nicht mehr daran anzupassen. Nun kann eingewendet werden, dass mehrgelenkige Trainingsübungen nicht alle angesprochenen Muskelgruppen gleichermassen aktivieren. Das ist korrekt. Deshalb ist es bei der Wahl der Übungen zentral, dass sich mehrgelenkige, funktionelle Übungen sinnvoll ergänzen und dadurch sämtliche Muskelgruppen genügend aktiviert werden. Die Kombination einer kniedominanten Kniebeuge mit hüftdominantem Kreuzheben beispielsweise, aktiviert alle grossen Beinmuskeln, womit der ganzheitliche Muskelaufbau optimiert wird. Im Vergleich: Zwei eingelenkige Beinmuskulatur-Übungen hätten niemals denselben ganzheitlichen Effekt und würden höchstwahrscheinlich auch keinen grösseren Muskelaufbau generieren. Dazu der Verweis auf verschiedene Studien:
- Paoli et al. (2017) haben den Unterschied von ein- und mehrgelenkigen in Bezug auf den Kraftzuwachs untersucht. Dabei konnten sie feststellen, dass die Gruppe, die mehrgelenkige Trainingsübungen ausführte, höhere Kraftzuwächse aufwies als die eingelenkig trainierende Gruppe.
- Gentil et al. (2013) haben die Effekte von eingelenkigen und mehrgelenkigen Trainingsübungen betreffend Hypertrophie (Muskelaufbau) erforscht. Dabei konnten sie keinen Unterschied zwischen den Gruppen beobachten und schlossen darauf, dass mehrgelenkige und eingelenkige Trainingsübungen gleich effektiv waren, um die Muskelmasse der trainierten Muskeln zu vergrössern.
- Daneben gibt es einige Studien, die untersucht haben, ob die Ausführung von eingelenkigen Trainingsübungen zusätzlich zum Training mit mehrgelenkigen Übungen (de Franca et al., 2015; Gentil et al., 2013) zu einem multiplizierenden Effekt für Kraft und Muskelzuwachs führt. Sowohl de Franca et al. (2015) als auch Gentil et al. (2013) konnten keinen signifikanten zusätzlichen Effekt auf die Muskelmassenzunahme der untersuchten Armbeugermuskeln beobachten.
Auch wenn die letztgenannten Studien eine leichte Tendenz erkennen lassen, dass ein zusätzliches eingelenkiges Training auf lange Sicht insbesondere für Trainierte einen leichten Vorteil im Muskelaufbau mit sich bringen kann, scheinen eingelenkige Trainingsübungen keine Notwendigkeit zu haben. Natürlich können diese nach Verletzungen im Rehabereich, bei Bodybuilder;innen oder in anderen spezifischen Fällen (bspw. klaren Defiziten) gewinnbringend eingesetzt werden. Für den Grossteil der Sporttreibenden ist der mehrgelenkige, funktionelle Trainingsansatz jedoch in vielerlei Hinsicht die beste Wahl. Der Übertrag auf die alltägliche und sportliche Leistungsfähigkeit ist grösser (siehe dazu Krafttraining: Freie Gewichte vs. Geräte und weshalb dicke Muskeln keinen Nutzen haben). Der Muskelaufbau ist derart effizient, dass mit weniger Zeitbedarf mindestens in gleichem Masse Muskeln aufgebaut werden können. Vorausgesetzt, es wird eine sinnvolle Übungsauswahl und -varietät gewählt sowie die Prinzipien des Muskelaufbaus eingehalten.
Take-Home-Messages
- Eingelenkige Trainingsübungen sind für den Muskelaufbau nicht effektiver als mehrgelenkige.
- Sie sind betreffend Kraftzuwachs und Übertrag auf Alltag und Sport weniger effektiv.
- Ist eine gewisse Varietät an mehrgelenkigen Trainingsübungen gewährleistet, werden alle grossen Muskelgruppen so aktiviert, dass zusätzliche eingelenkige Trainingsübungen nicht notwendig sind.
- Im Rehabereich, bei Bodybuilder:innen oder bei klaren Defiziten kann das Einbinden von eingelenkigen Trainingsübungen ins funktionelle Training gewinnbringend sein.
Blog-Beiträge, die dich auch interessieren könnten
- Krafttraining: Freie Gewichte vs. Geräte und wann man sie auch kombinieren kann
- Krafttraining: Freie Gewichte vs. Geräte und weshalb dicke Muskeln keinen Nutzen haben
- Einsatz- vs. Mehrsatztraining im Krafttraining: Was ist effektiver?
- Weshalb Planks und Sit ups keine Rumpfübungen sind
Literatur
- de França, H. S., Branco, P. A. N., Guedes Junior, D. P., Gentil, P., Steele, J., & Teixeira, C. V. L. S. (2015). The effects of adding single-joint exercises to a multi-joint exercise resistance training program on upper body muscle strength and size in trained men. Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism, 40(8), 822-826.
- Gentil, P., Soares, S., & Bottaro, M. (2015). Single vs. multi-joint resistance exercises: effects on muscle strength and hypertrophy. Asian journal of sports medicine, 6(2).
- Gentil, P., Soares, S. R. S., Pereira, M. C., Cunha, R. R. D., Martorelli, S. S., Martorelli, A. S., & Bottaro, M. (2013). Effect of adding single-joint exercises to a multi-joint exercise resistance-training program on strength and hypertrophy in untrained subjects. Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism, 38(3), 341-344.
- Heidel, K. A., Novak, Z. J., & Dankel, S. J. (2021). Machines and free weight exercises: a systematic review and meta-analysis comparing changes in muscle size, strength, and power. The Journal of Sports Medicine and Physical Fitness.
- Paoli, A., Gentil, P., Moro, T., Marcolin, G., & Bianco, A. (2017). Resistance training with single vs. multi-joint exercises at equal total load volume: effects on body composition, cardiorespiratory fitness, and muscle strength. Frontiers in physiology, 8, 1105.